Vorspiel

Der dankbare Laie und Genießer des Kunstwerks braucht zu dessen Lob und Preis das Wort ’schön‘. Aber der Künstler, der Mann vom Bau, sagt gar nicht ’schön‘, er sagt ‚gut‘. Er bevorzugt dies Wort, weil das fachlich Lobenswerte, das technisch Gekonnte sich besser und nüchterner darin ausdrückt.

Thomas Mann, ‚Der Künstler und die Gesellschaft‘, 1952

Herzlich willkommen zu dieser Webseite, auf der ich laufend meine Beiträge zum literarischen Werk Thomas Manns präsentieren werde.

In Anbetracht der seit Jahrzehnten schon ganz unüberschaubaren Literatur zu Thomas Manns Werk wird man mit Recht fragen können, wozu noch weitere Deutungsbeiträge? Ist dieses Werk, das von einer zum Teil mehr als 100-jährigen Forschung begleitet wurde, nicht völlig ausgelotet und durchleuchtet?

Es besteht kein Zweifel, daß neue Zeiten und neue Leser immer wieder neue Lesarten zeitigen. Neue Zeiten führen auch neue Problematiken und Perspektiven mit sich, die alsdann den Blick für neue Facetten im literarischen Werk eröffnen können. Die Gender-Thematik wäre hier als Beispiel zu nennen. Aus dieser Sicht einer immer neuen Aktualisierung der Werke sind neue Deutungsbeiträge berechtigt und auch zu erwarten.

Obwohl auch ich – wie alle, die sich mit Texten beschäftigen – zwangsläufig der Leser-Perspektive verpflichtet bin, ist es mein Ziel nicht, die Werke Thomas Manns einer sogenannten Leser-Rezeptionsanalyse zu unterziehen. Ich versuche vielmehr aufzudecken, was Thomas Mann in seine Texte hineingesteckt und wie er sie gemacht hat. Bezüglich seiner Arbeitsweise schreibt Thomas Mann 1907 an die literaturhistorische Gesellschaft in Bonn, daß seine produktive Langsamkeit auf „ein außerordentlich lebhaftes Verantwortungsgefühl bei der Wahl jedes Wortes, der Prägung jeder Phrase“ zurückzuführen ist, und daß in seinen Texten damit „jede Stelle zur „Stelle“, jedes Adjektiv zur Entscheidung wird“.

Als Leser – und vor allem als Interpret – darf man folglich davon ausgehen, daß in den literarischen Texten Thomas Manns nichts – auch nicht das, was realistisch oder naturalistisch vorkommt – zufällig dasteht. Alles, bis in das kleinste Detail hinein, ist einem bewußten künstlerisch-handwerklichen Willen unterworfen.

Will man versuchen, Thomas Manns akribisch gemachten Texten annäherungsweise auf den Grund zu kommen, kommt man deswegen nicht darum herum, sehr textnah mit seinen Werken zu verfahren. Die Forderung nach Textnähe ist nicht neu, sie ist von Zeit zu Zeit von mehreren Literaturwissenschaftlern erhoben worden. Die Zahl der konsequent textnahen Deutungen von den Werken Thomas Manns bleibt aber trotzdem immer noch gering. Und zugegeben, eine Forderung nach Textnähe gegenüber Werken von 400, 800 und sogar 2000 Seiten stellt ja den Interpreten, der auf eine Werkinterpretation abzielt, vor einer kaum zu meisternden Aufgabe.

Dies mag zum Teil auch erklären, warum viele Deutungen zum Werk Thomas Manns den Umweg über die Selbstaussagen des Autors gehen, denn seine Briefe, Essays und Interviews sind nicht nur sehr viel kürzer als die Kunstwerke, sie scheinen sich zudem auch einer direkteren Sprache zu bedienen. Aber warum sollte ein Künstler oft 4 bis 5 Jahre an 800 Seiten arbeiten, wenn er das gleiche auf 30 Seiten mit anderen Worten ausdrücken könnte? Der Künstler Thomas Mann geht nicht restlos in dem Briefschreiber und Essayisten Thomas Mann auf.

Ohne an der Forderung nach strikter Textnähe festzuhalten, kommt der Interpret schwerlich der vollen künstlerischen und ideellen Vielfalt der Mannschen Werke auf die Spur. Thomas Manns eigenartige Sprachkunst besteht darin, daß er fesselnde Geschichten erzählt, die aber zugleich weit mehr und ganz anderes ‚erzählen‘ als das, was der Leser unmittelbar am laufenden Text abliest. Erst durch die Aufdeckung der akribischen Machart der einzelnen Werke taucht auch, so meine Behauptung, deren ideelle „Botschaft“ auf, die nicht ohne weiteres mit den nicht-künstlerischen Aussagen des Autors gleichgesetzt werden kann.